Hintergründe

Wenn ein Dorf zusammensteht

Die Bewohnerinnen und Bewohnern von Guttannen haben eine Genossenschaft gegründet und damit den Dorfladen mit integrierter Poststelle gerettet. Eine Erfolgsgeschichte.

Sandra Gonseth

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Frau im Dorfladen, Früchte und Gemüse im Vordergrund.
Hereinspaziert: Barbara Willener gehört zum Trio, das den neuen Dorfladen in Guttannen führt. © Paolo Dutto

«Die Heidelbeeren, die süsse Engelwurz und die Föhrenspitzli für die verschiedenen Ginsorten sammeln wir in den umliegenden Wäldern und an den Felshängen», sagt Davide Tiraboschi und erhitzt den Kupferkessel. In der kleinen Brennerei im Dorfzentrum von Guttannen BE riecht es nach Wacholder, der Grundzutat für den handgemachten Gin. «Eigentlich wollten wir nur ab und zu ein paar Flaschen produzieren», erzählt der 44-Jährige.

Mann mit Heidelbeeren und Kupferkessel
Davide Tiraboschi fliegt nicht nur Drohnen für Hollywood-Filme, sondern brennt auch Gin. Der handgemachte Edelbrand findet reissenden Absatz − auch im Dorfladen kann man ihn kaufen. © Paolo Dutto

«Nach der Eröffnung der Brennerei letzten Sommer wurden wir richtiggehend überrannt», sagt Tiraboschi, der sich in Hollywood als Drohnen-Filmer einen Namen gemacht hat. Denn wenn ab Juni die Passstrasse wieder befahrbar ist, sei hier «die Hölle los», erzählt er. Vor allem bei schönem Wetter rollt der Freizeitverkehr durch das beschauliche Bergdorf am Fuss des Grimselpasses mit gerade mal 270 Einwohnerinnen und Einwohnern. Serpentine um Serpentine geht es dann hoch zum Grimselpass, vorbei an einer Grossbaustelle auf knapp 2000 Metern. Bevor die alte Staumauer geflutet wird, entsteht Meter um Meter eine neue.

Auch der Dorfladen führt den Gin im Sortiment. Oder besser gesagt der neue Dorfladen, der jetzt als Genossenschaft geführt wird. «Als die langjährigen Besitzer das Lebensmittelgeschäft mit Filiale mit Partner der Post an den Nagel hängen wollten, fanden wir keine Nachfolger», erklärt Urs Zuberbühler. Der gebürtige Ostschweizer unterrichtet mit seiner Frau Andrea an der Dorfschule. Daneben ist er Dozent an einer Pädagogischen Hochschule in Bern.

Mann sitzt auf Zaun, Bergen im Hintergrund.
Lehrer Urs Zuberbühler hat sich für das Fortbestehen des Ladens starkgemacht. © Paolo Dutto

Grosser Rückhalt

«Der Laden ist der Lebensnerv des Dorfs», sagt Urs Zuberbühler. Er und seine Frau Andrea kamen vor 27 Jahren nach Guttannen und wurden von der Dorfgemeinschaft herzlich aufgenommen. Die Töchter sind inzwischen 19 und 21 Jahre alt. Ein Auto hat die Familie immer noch nicht. «Wir haben konsequent nur im Dorfladen eingekauft», betont er. Auch einer der Gründe, weshalb er sich wie Davide Tiraboschi stark gemacht hat für eine Weiterführung. Vor der Genossenschaftsgründung wurde mit einer Umfrage abgeklärt, ob ein Lädeli überhaupt ein Bedürfnis ist, oder ob die Leute doch lieber nach Meiringen zum Grossverteiler gehen.

Die Resonanz war überwältigend. «Es hat viele Leute hinter dem Ofen hervorgelockt, das ist nicht selbstverständlich», staunt Urs Zuberbühler noch heute. Bei der anschliessenden Genossenschaftsgründung zeichneten die Dorfbewohnerinnen und -bewohner bereits in der ersten Stunde 35 Scheine. Am Schluss waren es deren 140. «Wenn man das auf die Haushalte aufrechnet, steht praktisch das ganze Dorf hinter uns», so Zuberbühler. Weitere finanzielle Unterstützung erfuhr die Genossenschaft von der Gemeinde, der Bäuertgemeinde (Landeigentümerin), der Berghilfe und vom Kanton.

Interessant für Familien

«Auch wir von der Gemeinde waren natürlich an einer Weiterführung interessiert», sagt Gemeindepräsident Werner Schläppi. Guttannen hat wie viele kleine Bergdörfer mit Überalterung, Abwanderung und Naturgewalten zu kämpfen. «Wir wollen etwas dagegen tun.» Vor allem für Familien seien ein Dorfladen und eine Post wichtige Kriterien für einen Zuzug – neben der Schule und erschwinglichem Wohnraum. Der 63-Jährige, der die Schreinerei im Dorf betreibt, erzählt von der fantastischen Lebensqualität, von drei Familien, die dieses Jahr herziehen.

Mann steht vor einem Chalet
Gemeindepräsident Werner Schläppi begrüsst das Engagement der Dorfgemeinschaft. © Paolo Dutto

Heute ist viel los im umgebauten Dorfladen: Ein Techniker repariert die Gemüsewaage, eine grosse Lieferung mit Nachschub wird erwartet. «Ich arbeite gerne hier», sagt Sarah von Weissenfluh, die an der Kasse steht. Sie führt zusammen mit Urs Zuberbühler und Barbara Willener den Betrieb. Die 40-Jährige hat drei Kinder im Teenageralter und ist vor allem für finanzielle und bauliche Belange zuständig. Die Betriebsgruppe erhält eine Jahrespauschale, der grosse Teil ist Freiwilligenarbeit.

Frau steht vor dem Dorfladen
Sarah von Weissenfluh gehört zum Dreierteam, das den neu gegründeten Dorfladen führt. © Paolo Dutto

Ein Laden für alle

«Warum ich mich dafür engagiere? Ich will dem Laden eine Chance geben, weil die Grundversorgung mit Lebensmitteln einem wirklichen Bedürfnis entspricht», betont Sarah von Weissenfluh, die auch noch als Betreuerin in einem Wohnheim arbeitet. Ins Postgeschäft hat sie sich schnell eingearbeitet. «Die Zusammenarbeit ist unkompliziert und wir erhalten jederzeit Unterstützung.» Momentan beschäftigen sie drei Teilzeitangestellte. Das Lädeli ist 30 Stunden pro Woche bedient. Einkaufen kann man aber rund um die Uhr mittels Einlasscode und Selbstbedienungsprinzip. Bezahlt wird mit Karte oder vorgängig gekauften Gutscheinen.

«Das neue Konzept funktioniert hervorragend», blickt Urs Zuberbühler, der als Genossenschaftspräsident auch für den Einkauf zuständig ist, auf die ersten Monate zurück. Besonders beliebt bei der Dorfbevölkerung seien die vielen regionalen Produkte. Und die Guttannerinnen und Guttanner können jetzt auch mitbestimmen: Wenn jemand an einer Unverträglichkeit leidet, wird das entsprechende Produkt ins Sortiment aufgenommen. Natürlich sei die Herausforderung um ein Vielfaches grösser, wenn man 25 verschiedene Lieferanten managen müsse, sagt er. Die Feuertaufe steht dem Dorfladen noch bevor. Schon bald öffnet die Passstrasse. Und dann geht es erst so richtig los.

© Paolo Dutto

verfasst von

Sandra Gonseth

Redaktorin

Zusteller, Fremdenführer und Seelentröster

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