Hintergründe

Zusteller, Fremdenführer und Seelentröster

Malerische Gassen, altes Kopfsteinpflaster und viele Strassenkaffees: In Solothurn kommt sofort Ferienfeeling auf. Auf Zustelltour mit Sacha Wyler im schönsten Barockstädtchen der Schweiz.

Sandra Gonseth

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Mann auf Elektroroller auf Brücke, im Hintergrund Altstadt
Copyright: Monika Flückiger

Klingeln, warten. Im dritten Stock des alten Patrizierhauses mit beiger Fassade wird ein Fenster geöffnet und ein ergrauter Mittfünfziger streckt den Kopf heraus. «Muss ich nach unten kommen?» Ja, wenn er den eingeschriebenen Brief von Sacha Wyler in die Hand gedrückt haben will. Wenn nicht, klickt Sacha im Smartphone auf eine Kachel, füllt eine Abholungseinladung aus und legt den Brief zurück in den Behälter seines Elektrorollers.

Noch etwas verschlafen

Es ist früh in Solothurn. Die hohe Luftfeuchtigkeit nach einem kurzen Gewitterregen lässt die Haare kringeln und das schönste Barockstädtchen der Schweiz präsentiert sich noch etwas verschlafen. Einzig die Zulieferer der vielen kleinen Geschäfte kurven mit ihren grossen Camions in den engen Gassen herum, als gäbe es kein Morgen. Sie haben bis halbzwölf Zeit, dann müssen sie die Altstadt verlassen. Wie auch der gesamte motorisierte Verkehr. Einzige Ausnahme: die Fahrzeuge der Post, die mit grünem Strom unterwegs sind.

Barok Brunnen und Postangestellter im Hintergrund.
Wenn Sacha mit der Post seine Zustelltour beginnt, präsentiert sich Solothurn noch etwas verschlafen. (Copyright: Monika Flückiger)
Sasha
(Copyright: Monika Flückiger)

Altstadttour

Sacha ist 41-jährig und fährt konsequent mit kurzen Hosen. Jedenfalls von April bis November. Auch wenn es Bindfäden regnet, verzichtet er auf Regenbekleidung. Er zeigt auf den hochwertigen Stoff seiner Bekleidung, die schneller trocknet als man zusehen kann. Sacha ist seit fünfzehn Jahren Zusteller in der Solothurner Altstadt. Er teilt sich das Gebiet mit seinem Stellvertreter, wobei er die etwas kleinere Tour übernimmt. Der gebürtige Solothurner leitet das Zustellteam mit 21 Mitarbeitenden und muss auch noch Büroarbeit erledigen. Insgesamt gibt es in der Altstadt – die sich von der Aare leicht aufwärts in zwei Richtungen ausbreitet und bei den Stadttoren endet – 1300 Haushalte.

Feine Solothurnertörtchen

Darunter viele kleine Läden, die Messer verkaufen oder Tabak oder wunderbar geblümte Stoffe oder Käse, bei dem jeder Käseliebhaber vor Freude wie Raclettekäse schmilzt. Abgerundet von der Gastronomie, ein paar hochkarätige Restaurants wie das Baseltor. Vor dem Eingang vier Bistrotische und eine blaue Bank, auf den Fensterbänken reihen sich die Blumentöpfe. In den vielen Kaffees und Confiserien gibt es die Solothurnertörtchen zu verkosten. Eine Spezialität, die aus einer dicken Schicht Buttercrème besteht und mit einem Japonaisboden und Haselnüssen den Gaumen erfreut. Aber aufgepasst: Wenn sie zu viel Hitze kriegen, dann schmelzen sie zu kleinen traurigen Häufchen.

Solothurnertörtchen und Kaffee.
In den vielen Kaffees und Confiserien gibt es die Solothurnertörtchen zu verkosten. Eine Spezialität, die aus einer dicken Schicht Buttercrème besteht und mit einem Japonaisboden und Haselnüssen den Gaumen erfreut. (Copyright: Monika Flückiger)

Der Nase nach

Der Mittfünfziger kommt jetzt doch die drei Etagen herunter. Die Neugierde ist wohl zu gross, was im Brief stehen könnte. Ich sehe so einiges, sagt Sacha vieldeutig und will nicht weiter in die Details gehen. Da ist ein Auftritt im Morgenrock wohl noch das Harmloseste. Weiter geht es. Für die meisten Hauseingänge hat er einen Spezialschlüssel. Denn in der Altstadt sind Briefkasten an der Hausfassade nicht erlaubt. Denkmalschutz. Einmal den Schlüssel drehen und schon steht er in einem dämmrigen Gang. Hier riecht es modrig, die Kacheln an den Wänden sind abgeblättert, das hippe Braun der 70er Jahre dominiert den Fussboden. Wenn Sacha die Augen schliesst, kann er sich am Geruch der Hausflure orientieren.

Mehr als ein Zusteller

Sacha ist fast immer gut gelaunt und hat für alle ein nettes Wort übrig. Er mag die Menschen und die Menschen mögen ihn. Er ist weit mehr als ein Zusteller. Fremdenführer und manchmal auch Seelentröster. Jemand, auf den man sich verlassen kann. Die Sonne guckt jetzt raus aus dem wolkenverhangenen Himmel und das Städtchen füllt sich mit Menschen wie ein Korb voller praller rotschaliger Äpfel. Wenn am Mittwoch und Samstag Wochenmarkt ist und sich Sacha mit Anhänger durch die Gassen schlängeln will, ist fast kein Durchkommen möglich. Das heisst dann viel Fussarbeit und sich vom Besucherstrom mitreissen lassen.

Sacha
Für die meisten Hauseingänge hat Sacha einen Spezialschlüssel. Denn in der Altstadt sind Briefkasten an der Hausfassade nicht erlaubt. (Copyright: Monika Flückiger)

Schlafentzug

Vorbei am Rathaus, dem alten Zeughaus, dem Pfarramt, einer bekannten Modekette und einem Take away, wo ihm der erste Kaffee angeboten wird. Heute braucht er ihn dringender als sonst. Denn die Nächte sind streng. Er ist kürzlich Vater geworden. Wenn sich das Baby um 4 Uhr meldet, ist es für Sacha fast schon Zeit, um aufzustehen. Pünktlich um 6 Uhr beginnt er an der Zuchwilerstrasse 27 seine Arbeit. Nach dem Sortieren der Briefe und Pakete schwärmen die Zusteller wie Bienen in alle Richtungen aus. Weil die Briefmenge kontinuierlich zurückgeht, beladen sie ihre Elektroroller auch mit Paketen. Alles was nicht Sperrgutgrösse hat, wird mitgenommen.

Auf der Partymeile

Am Schluss geht’s auf die Ausgehmeile unten an der Aare. Auf der Quaimauer sitzt eine Bistrobesitzerin und lässt sich von der Sonne anstrahlen. Sacha drückt ihr die Post in die Hand. «Willst du Pöstler des Jahres werden? Ich würde dich sofort wählen.» Er lächelt. Für ihn gibt es nichts Schöneres als seine Altstadttour. Einmal musste er eine Jobrotation auf dem Land machen. Das sei zwar eine schöne Abwechslung gewesen, aber für immer? Ihm würde das quirlige Leben der Altstadt mit all seinen Facetten fehlen. «Oder soll ich etwa mit den Kühen sprechen?

Sacha
(Copyright: Monika Flückiger)
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(Copyright: Monika Flückiger)

verfasst von

Sandra Gonseth

Redaktorin

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