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Pöstlerin Karin Kaiser: «Der Weg in mein neues Leben ist unglaublich bereichernd»

Ein Rennvelounfall zwang die Sanktgaller Zustellerin Karin Kaiser vor einem Jahr in den Rollstuhl. Jetzt arbeitet sie wieder - immer noch bei der Post - in einer Integrationsstelle im Case-Management. Den Rollstuhl braucht sie nur noch selten – sie kann kurze Strecken gehen.

Fredy Gasser

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Frau auf Spezial-E-Bike in der Natur.
Endlich wieder Velofahren: Nach langen Monaten im Rollstuhl und nach Dutzenden von Therapiestunden geniesst Karin Kaiser die Fahrt mit ihrem Spezial-E-Bike. Copyright: Michael Sieber

Vornübergebeugt über den Triathlon-Speziallenker sieht Karin Kaiser, dass sich die Autos vor ihr gestaut haben. Bremsen? Ausweichen. Die Trottoirkante ist zu scharf, mit eingehängten Click-Pedalen wirbelt die zierliche Freizeit-Sportlerin mitsamt ihrem Velo um die eigene Achse und schleudert ungebremst in den Metallzaun am hinteren Trottoirrand. Dann wird es schwarz. Das bewahrt sie vor unsagbaren Schmerzen: Zwölfter Brustwirbel gebrochen, zwei Halswirbel, ein Schulterblatt und alle Rippen auf der rechten Seite, eine hat die Lunge durchbohrt. Schädeltrauma und eine leichte Hirnblutung. Das passierte der heute 48-Jährigen am frühen Abend des 1.Oktober 2019.

«Ich kann auch im Rollstuhl glücklich sein»

Auf den Tag ein Jahr nach ihrem Unfall tritt Karin Kaiser ihre neue Aufgabe in der Integrationsstelle an. Die zierliche Frau mit ihrer aufgestellten Art und ihrem optimistischen Blick ist jetzt nicht mehr Zustellerin bei der Post, sondern arbeitet im Case-Management, ebenfalls bei der Post. Den Weg vom Unfall in ihr neues Leben hat sie «unglaublich bereichernd» erlebt. «Ich sagte mir: Und wenn ich nicht mehr laufen kann – ich kann auch im Rollstuhl glücklich sein.»

Frau zeigt Bild auf dem Handydisplay.

«Einfach wegkippen»

An einem sonnigen Herbstnachmittag 2020 empfängt Karin ihren Besuch. Sie steht in der hellen Küche ihres Hauses auf eigenen Beinen, der rechte Unterschenkel mit einer «Foot up»-Schiene bandagiert. «Genau das tut sie auch», erklärt Karin: «Sie hält den Fuss im rechten Winkel und hilft mir so, das Abrollen des Fusses zu kontrollieren. Ich würde nach hinten wegkippen, wenn ich den Schwerpunkt meines Körpers nicht stetig nach vorne ausrichten würde, da mir praktisch die gesamte Gesässmuskulatur fehlt.»

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Ehemann Urs macht Kaffee für alle, er sagt: «Der Unfall war ein Schock. Aber jetzt bin ich einfach glücklich, dass es Karin so gut geht.» Jede Handreichung sitzt, und jede Handbewegung hier in ihrem Heim zeigt: Die beiden sind ein eingespieltes Paar, teilen sich die Hausarbeit, schauen sich liebevoll an, lachen zusammen.

Mann küsst Frau auf die Wange.
Zusammen mit Ehemann Urs geniesst Karin die gemeinsame Zeit in der Natur. Copyright: Michael Sieber

«Nicht grübeln»

Fünf Tage und zwei Operationen nach dem Unfall flog ein RegaTarget not accessible-Helikopter die Patientin Karin nach Nottwil ins Paraplegikerzentrum. Sie sass im Rollstuhl und lernte den Alltag neu: Staubsaugen im Rollstuhl. Bettwäsche wechseln im Rollstuhl – «ein enormer Kraftakt, der viel Geschicklichkeit verlangt.» Und, natürlich, Kochen im Rollstuhl; das Pfannenbrett mit Styropor-Isolation an der Unterseite bastelten sie in der Ergo-Therapie selber. Daneben, abwechselnd, Physio-Therapie, Wassertherapie, Hypotherapie, Elektrostimulation, Krafttraining und Fitnesstests – «man macht im Rollstuhl ja viel mehr mit dem Oberkörper». «Wir waren so ausgelastet, da kommt man nicht ins Grübeln. » An ihre Zeit in Nottwil erinnert sie sich gerne: «Es gab keinen einzigen Tag, ohne dass mich jemand besucht hätte.»

Freudentränen bei der Post

Ihr Chef vom Briefzentrum Hechtacker St. Gallen ermunterte sie schon beim ersten Besuch im Spital: «Für dich haben wir immer einen Platz.» Anfang Juni 2020 kommt Karin nach langer Absenz wieder ins Büro: «Mir kamen fast dir Tränen: Alle standen Spalier, jede und jeder schenkte mir eine Blume – ein einziger grosser Blumenstrauss.»

Frau sitzt zu Hause vor dem Computer.
Homeoffice statt Zustelltour: Seit diesem Herbst arbeitet Karin Kaiser im Case-Management. Copyright: Michael Sieber

Zurück in ihren angestammten Beruf als Zustellerin und Teamleiterin Stv konnte sie nicht mehr. Stattdessen Backoffice, und administrative Arbeiten. Dann das Angebot: Sie kann ins Case Management nach Winterthur wechseln. An der Schnittstelle zwischen Post, Mitarbeitenden und Sozialversicherung hilft Karin jetzt anderen betroffenen KollegInnen beim Wiedereinstieg ins Arbeitsleben. «Auf die mögliche Umschulung zur Case Managerin freue ich mich sehr.»

Endlich wieder Velofahren: Seit dem Unfall unfahrbar, aber immer bereit zum Einsatz: Karin Kaiser auf ihrem Triathlon-Velo - mit Blick direkt ins Sonnenlicht. Copyright: Michael Sieber

Ab und zu setzt sie sich auf ihr Triathlonvelo. Seit dem Unfall steht es unfahrbar aufgebockt bei ihr zu Hause. Wenn sie darauf ihre Runden abspult, sieht sie zum Fenster hinaus. Direkt ins Sonnnenlicht.

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Fredy Gasser

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